Natur und Kunst
Das folgende Sonett von Goethe – der vom „Stürmer und Dränger“ zum „Klassiker“ wurde - hat mein Denken und künstlerisches Tun stark beeinflusst.
Johann Wolfgang von Goethe
Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen
und haben sich, eh man es denkt, gefunden;
der Widerwille ist auch mir verschwunden,
und beide scheinen gleich mich anzuziehen.
Es gilt wohl ein redliches Bemühen!
Und wenn wir erst in abgemessnen Stunden
mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,
mag frei Natur im Herzen wieder glühen.
So ist’s mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
nach der Vollendung reiner Höhe streben.
Wer Großes will, muss sich zusammenraffen;
in der Beschränkung zeigt sich erst der Meister
und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.
Auf den ersten Blick erscheint es manchem so, als wären Natur und Kunst zwei völlig verschiedene Bereiche, Gegensätze: die unberührte Natur und die von Menschen gemachte Kunst, das eine natürlich gewachsen, das andere geplant gestaltet, das eine von Natur aus ungekünstelt, ungezwungen, ungebunden, frei wuchernd, das andere vom Menschen kultiviert, ästhetisch geformt und stilvoll gepflegt.
Doch bei näherem Hinsehen verschwindet auch bei mir wie bei Goethe dieser „Widerwille“: Beides, Natur und Kunst, ziehen mich an. Ich empfinde das Natürliche und das Kunstvolle nicht wie einen Gegensatz, sondern als etwas, dass sich gegenseitig ergänzt und bereichern kann. Nicht dem wilden, ungebundenen, maßlosen, alle Schranken missachtenden, dem unbegrenzten Triebe folgenden Tätigen wird „frei Natur im Herzen glühen“, sondern dem, der sich bedächtig, mit “Geist und Fleiß“ „an die Kunst gebunden“ hat. Innerlich frei wird der Schaffende erst, wenn er sich an selbst Gesetztes bindet - sei es die Erhaltung und Unverletzlichkeit der Natur, sei es die Würde und Freiheit des Menschen oder – vordergründig betrachtet – die Art und Weise künstlerischer Gestaltungen.