Gille W. Kuhr
Kurzgeschichte

„Der Kuhlkerl“ oder „Wir haben wenigstens Arbeit“

„Schläfst du?“, fragte die Frau.
„Nein.“
„Tut dir der Rücken wieder weh?“
„Das ist es nicht“, hustete der Mann, „womöglich eine Erkältung.“
Früher hatte er sein Atmen gar nicht bemerkt. Und nun spürte er jedes Staubkorn. Er fror und sah, wie der Mond mit fahlem Licht einen Schatten des Fensterkreuzes schwarz und schräg auf den Erdboden des kleinen Raumes zeichnete.
„Wir haben wenigstens Arbeit“, sagte der Mann.
Die anderen, die hatten sie alle entlassen und neue, jüngere, kräftigere Männer eingestellt. „Wir haben wenigstens Arbeit“, wiederholte er und strich mit seinen groben, rauen Fingern über den Mund der Frau, über ihre blasse Haut, ihre Stupsnase, ihre Locken, ihr linkes Ohrläppchen, ihre Schultern, ihren hageren, aber warmen Körper. Sie war nach vier Jahren wieder schwanger geworden. Er hustete.
„Nicht so laut“, sagte sie.
Seine schwere, schwielige Hand berührte ihren Bauch. Sie schloss die Augen.
„Woran denkst du?“
Vor fünf Jahren hatten sie geheiratet. Sie war schon damals Dienstmagd am Hofe des Gutsherrn, dem der Steinbruch gehörte. „Du willst heiraten?“, hatte der Herr gefragt, „den Steinhauer? Hat er Arbeit? Kann er eine Familie ernähren?“ Nach dem Abendessen beorderte er sie in seine Kammer, forderte gewaltsam sein vermeintliches Recht, ohne Rücksicht, ohne Gnade. Sie solle sich nicht so anstellen. Sie wolle doch weiterhin an seinem Hofe arbeiten. Außerdem dürfe sie, und das sei Großmut, mit ihrem zukünftigen Manne in der Kate neben dem Pferdestall wohnen.
„Woran denkst du?“ Er bemerkte, wie sie ihren Kopf abwandte und tiefer atmete.
„Papa!“
Er hustete und stand auf.
„Zieh dir die Wollsocken an. Du bist schon erkältet.“
Doch er tappte mit nackten Füßen durch den dunklen Raum. Am Bettkasten hinter der Küchentür kniete er mühsam nieder und tastete nach dem kleinen, schmalen Köpfchen des Kindes.
„Papa, weißt du, was ich mir wünsche?“
„Was denn?“
„Ein weißes Kleid für Gabriele.“
„Für Gabriele?“
Gabriele war ihr Puppe.
„Wenn du ganz fleißig betest und schnell einschläfst, dann bringt das Christkind Weihnachten bestimmt ein neues Kleid für Gabriele.“
„Es soll aber weiß sein.“
„ Nun schlaf und träume.“ Er zog an der Wolldecke und streichelte den kleinen Kopf seiner Tochter. Sie hatte das Gesicht seiner Frau, den Mund, die Stupsnase, die Locken.
„Es soll aber weiß sein, Papa.“
„Ja, ja, mein Engel.“
Alles schmerzte, als er aufstand. Er schlich zurück ins Ehebett.
„Sie freut sich auf Weihnachten“, sagte er leise. „Sie wünscht sich ein weißes Kleid für Gabriele. Hast du noch weiße Wolle? Im Hofladen gibt’s welche. Kauf morgen nach der Arbeit ein Knäuel.“
Er hustete.
„Psst. Nicht so laut.“
Er legte seine Hand auf ihren Bauch.
„Ob das ein Junge wird?“
Sie wusste, dass er weiterhin in der Kuhle Steine brechen und schleifen durfte. Ihn würde man nicht entlassen. Er würde für seine Frau und für zwei Kinder sorgen können. Er hatte Arbeit und sie war immer noch Dienstmagd am Hofe des Gutsherrn, dem der Steinbruch gehörte. „Dein Mann ist krank“, hatte der Herr gesagt. „Ich brauche eigentlich kräftige, gesunde Steinhauer. Aber du willst doch auch im nächsten Jahr bei mir am Hofe arbeiten und mit deinem Manne in der Kate neben dem Pferdestall wohnen bleiben.“ Der Herr nahm sie ein weiteres Mal in seiner Kammer. Gott ließ es zu, ihre stummen flehenden Gebete erreichten den Himmel nicht.
„Ob das ein Junge wird?“
„Wir haben wenigstens Arbeit“, sagte er. „Die anderen, die haben sie alle entlassen.“
Der Mond, als habe er genug gesehen, verschwand hinter einer Wolke. Es wurde noch dunkler in dem kleinen Raum.
„Wir haben wenigstens Arbeit“, wiederholte der Mann und legte den rauen Zeigefinger auf den Mund seiner Frau, strich über ihre Stupsnase, ihr linkes Ohrläppchen, ihre Schultern, ihren warmen Bauch.
„Vergiss nicht die weiße Wolle.“
Er hörte seinen eigenen Atem und musste husten.
„Wir werden es schon schaffen.“
„Ja“, sagte sie, „wir werden es schon schaffen.“